aus Marienkalender 1953 von J.P.Apel

Typhusepidemie in Consdorf

Wer sie miterlebt hat, kann sich ein ungefähres Bild machen von den Plagen des Mittelalters, von Cholera und Pest. Wie sie kam, wer kann es genau sagen? Manch einer hatte Wochen vorher die "amerikanische Krankheit", die sich in Erbrechen, Kopfschmerzen und Diarrhoe äußerte. Vielleicht war es ein leichter Paratyphus.
Dann kam es wie eine Explosion. Anfang Juni war es. Dieser hatte sich "gelegt", jener war krank, in Stundenfolge liefen die Gerüchte von neuen Fällen durch die Ortschaft. In einigen Tagen waren es vierzig. Die ortsansässigen Karmeliterschwestern genügten nicht mehr, die Hauspflege der Kranken zu bewältigen, Neue wurden im Mutterhause St. Zitha in Luxemburg angefordert, Die Ärzte hatten bald die Diagnose der Krankheit festgestellt: Typhus in der Mehrzahl, einige Fälle Paratyphus.
Aber die Behandlung der Kranken war schwierig. Eben waren alle Einwohner aus der Evakuierung zurückgekehrt. Der Sommer stand vor der Türe. Die Arbeit drängte mehr denn je. Da war doch keine Zeit, um krank zu sein. Mit Mühe schleppte man sich vom Bett durchs Haus, in die Ställe. Man konnte zwar nicht mehr, man mußte aber. Die Arbeit wurde nicht von selber gemacht. Manch einer war sterbenskrank, hörte aber nicht auf das Zureden der Ärzte und Schwestern. Daher wohl auch der hohe Prozentsatz von Sterbefällen unter den ersten vierzig, (Gar neun Sterbefälle = 22%). Der Eberth-Bazillus, der den Typhus verursacht, greift den ganzen Menschen an. Früher glaubte man, die Krankheit begrenze sich auf den Darm. Dieser ist in der Tat sehr gereizt, und die entzündeten Darmwände verschulden häufigen und gefährlichen Blutverlust. Die Lebensgefahr besteht in der Perforation oder Durchlöcherung des Darmes, wobei in kürzester Zeit Bauchfellentzündung eintritt. Daher muß der Typhuskranke sich streng an die ärztlichen Diätvorschriften halten. Diese laufen darauf hinaus, den Körper für die lange durchzumachende Krankheit zu wappnen und alles zu meiden, was der Perforation des Darmes Vorschub leisten könnte.
Heute hat man erkannt, daß der ganze Körper vom Bazillus infiziert wird, da er durch den Blutkreislauf in alle Organe gelangt, Das Unheimliche aber ist, daß er sich während ungefähr vierzehn Tagen unbemerkt im Körper des Menschen aufhält, sich dort nährt, sich vermehrt (Inkubation), bis schließlich ganze Heeresmassen den Angriff gegen den sich verzweifelt wehrenden Organismus unternehmen. Das ist der Augenblick, wo die Krankheit äußerlich sichtbar wird. In 2-3 Tagen steigt die Fieberkurve auf 39-4O Grad, ein Beweis, wie ernst Angriff und Abwehr sind. Was ist da zu machen? Der Kampf muß vom Organismus des Menschen sozusagen allein ausgefochten werden. Ein den Bazillus direkt tötendes Medikament gab es leider noch nicht, die berühmten Sulfonamiden und das Penicillin vemögen nichts direkt gegen ihn. Seit zwei Jahren hat sich der Arzneischatz um sehr wichtige Medikamente bereichert. Sie werden ähnlich wie das Penizillin von Pilzen gewonnen und sind stark wirksam gegen Typhusbazillen. so z, B, Streptomycin, Aureolnycin, Chloromycetin, Ferromycin und andere. Zur Zeit der Typhusepidemie in Consdorf 1945 aber konnte der Arzt nur den heroischen Kampf des Organismus mit allen Mitteln seiner Kunst unterstützen, die Körperreserven überwachen und anreichern, falsches Eingreifen von seiten des Patienten oder der Laien unterbinden, im Kampf erlahmende Organe, wie das Herz, stützen und sorgen, daß der Kranke vor einen unglücklichen Ende bewahrt wurde, denn es treten ja zum Typhus noch soviele Nebenerkrankungen auf, wie Lungenentzündung, Pleuritis, Gallen- und Leberleiden, Darmblutung, Phlebitis und viele andere. Der schwer angeschlagene Organismus kämpfte also ganz allein, zu höchstem Fieber sich erhitzend, den gigantischen Kampf gegen den gefährlichen Eindringling, eine Abwehr, die 14 Tage als erbitterte 'l'rommelschlacht ausgefochten wird, um dann, wenn der Kranke gesiegt hat, in ein Wochen dauerndes Nachhutgeplänkel überzugehen. In völliger Schlaffheit bleibt der Sieger auf der Walstatt. Das ist, was auch der Laie in den vier Monaten der schlimme Zeit über den bösen Eberth-Bazillus kennen lernte.
Kommen wir nun zurück zu den ersten Junitagen 1945, wo auf einmal gegen vierzig Kranke in fast ebensovielen Häusern lagen. Ärzte und Pflegepersonal zwangen die Lage fast nicht mehr. Auf Anordnung des Herrn Dr. Léon Molitor vom staatslaboratorium in Luxemburg wurden alle Infizirierten in das Isolatorium der Elisabethinnenschwestern nach Remich gebracht. Welch ein düsteres Schauspiel war es, als die Ambulanzwagen durch das Dorf fuhren und all die Kranken aufluden, in jeden Wagen mehrere. Jedem kam der unwillkürliche Gedanke : Kommen sie wohl lebend zurück ? Und tatsächlich wurde manch einer im Leichenwagen nach Hause oder vielmehr zum Kirchhof gebracht. Manchmal ging das schauerlich her. Weil das Dorf durch einen cordon sanitaire abgeschnitten war, Militär und Polizei an allen Kreuzungspunkten den Zugang und den Ausgang abriegelten, der Zug sogar nicht mehr an der Station Consdorf hielt, die telefonischen Verbindungen noch nicht hergestellt waren, kam es mehr als einmal vor, daß der Leichenwagen aus Remich vor der Kirche anhielt, ohne daß Meldung von seinem Kommen eingetroffen war. In aller Eile mußte ein Grab geschaufelt werden; keine Glocke läutete zu den Begräbnissen, keine zu den Messen; der Sonntagsdienst war untersagt, die Schulen hatten Ferien. Wenn solch ein Leichentransport unverhofft anlangte, fanden sich anfänglich noch Beherzte, um als Totenträger zu fungieren; ein kräftiger Schluck - und der Sarg wurde in geweihte Erde gesenkt; von den obligaten Desinfektionslösungen wurde dann reichlich Gebrauch gemacht. Aber nach und nach fanden sich auch solche Beherzte nicht mehr ein. Politische Gefangene in weißen Kitteln luden den Sarg auf den Schreinerkarren, - ein Totenwagen wurde wegen des Aufsehens nicht mehr gebraucht - und dann rollte der Karren zu Kirchhof und Grab.
Ergreifend schauerliche Szenen kamen vor. In einem Hause lagen Mann, Frau, die Grobmuttcr und ein Sohn krank darnieder. Ein Kind nur, selber schon angesteckt. schleppte sich noch durch Küche und Stall, und in Remich war kein Platz mehr für die Kranken. Die Mutter war nächtens, vom Fieber gepeinigt. aufgestanden und hatte am offenen Fenster Erleichterung gesucht. Eine schwere Peritonitis war die Folge. Ein hoffnungsloser Fall.Wie es nun anstellen, daß die Angehörigen durch den fatalen Ausgang nicht noch weiter deprimiert würden ? Um ins Sterbezimmer der Mutter zu gelangen, mußte das Krankenzimmer des Vaters durchschritten werden. Ohne Aufsehen gelang der Versehgang. Auch vom eingetretenen Tod wußte der Gatte nichts. Aber wie die Leiche nach unten transportieren? Der Vater war selbst auf I.eben und Tod gepackt. Unten im Erdgeschoß lag der kranke Sohn, der noch Auge und Ohr war und dem nichts entging. Schließlich bereitete man den Vater schonend auf das Geschehene vor...
In der zweiten Hälfte Juni lag das Dorf wiederum voll von neuen Kranken. Im ganzen waren es rund 140 Fälle. Die Schwestern sollten überall sein und mußten doch von einem Hause zum andern. So konnte es passieren, daß sie in einem entscheidenden Augenblick abwesend waren. Da ordnete Dr, Willy Speck aus Echternach, der zusammen mit dem neugebackenen Arzt Dr. Charles Wagner aus Consdorf das Dorf betreute, auf Vorschlag des Bürgermeisters P, Mirkes an, die Kranken in einem in der Ortschaft einzurichtenden Hilfsspital unterzubringen.
Hotel Hoffmann - improvisiertes Spital Mit seltener Energie und in Rekordzeit wurde das Hotel Hoffmann mit seinen 28 Zimmern und zwei großen Sälen requiriert und eingerichtet.
Betten kamen von überall her, vom Roten Kreuz, aus der Heilanstalt, von Privaten. Bettzeug - viele Evakuierte hatten nicht viel mehr als das unbedingt Notwendige - wurde entweder durch das Rote Kreuz beschafft oder von wohltätigen Pfarreien aus dem ganzen Lande reichlich gespendet. Die Pfarreien Esch-Alzette, Limpertsberg, Christnach, Beidweiler, Fels und die Filiale Breitweiler taten sich besonders rühmlich hervor. Ein Typhuskrankenspital braucht eine Unmenge {wegen der Darmbluter); aber in einer Woche stand das Spital da, Wasserleitung und Elektrizität funktionnierten; blitzblanke Betten überall. Sechzig Kranke lagen durchschnittlich in diesem säuberlichen Spital; zehn Schwestern und zwei freiwillige Rotkreuzhelferinnen, unterstützt von rund zwanzig weiblichen politischen Gefangenen, welche Küche und Wäscheraum besorgten und teilweise in der Krankenpflege Dienste leisteten. Das war schon ein Musterhilfsspital: mit Büro, Apotheke, Baderäumen, Proviantkammer für Diätkost. Das Rote Kreuz und die amerikanischen Hilfsaktionen lieferten hauptsächlich Diätkost, Apotheke und Pendelverkehr zwischen Consdorf und dem Staatslaboratorium besorgte die Gemeinde. J. P. Goedert und Eug. Bestgen übernahmen zuvorkommend die meisten offiziellen Fahrten. Wer vermöchte die Untersuchungsampullen zu zählen, die dorthin gebracht wurden und die Herr Dr. L, Molitor geduldig und aufopferungsvoll bearbeitete? Die Ärzte Dr. Speck und Dr. Wagner machten täglich wenigstens einmal eine Runde durchs ganze Spital. So ungern die meisten Kranken anfänglich ihr Krankenbett daheim aufgaben, so glücklich waren sie jetzt, da sie sahen, wie jeder sich für sie in der denkbar schönsten Weise einsetzte. Von den ungefähr hundert Patienten, die im Spital in Consdorf Aufnahme fanden, starben nur fünf. Allerdings muß hervorgehoben werden, daß die meisten von ihnen gleich nach den ersten Anzeichen der Krankheit eingeliefert wurden.
In jenen Tagen leuchtete die katholische Caritas glänzend über Consdorf. Drei Karmeliterschwestern, deren Genossenschaft die Pflege übernommen hatten, wurden vom tückischen Ebertbazillus infiziert. Eine von ihnen starb, ,,Eine größere Liebe hat niemand, als daß er sein Leben einsetzt für seine Freunde!" Auch das religiöse Leben erhielt großen Auftrieb während der Typhusepidemie. Wieviel hundert Kommunionen wurden dort ausgeteilt, mit welcher Andacht wurden sie empfangen und mit welcher Inbrunst wurde der Heiland in dieser schweren Zeit für die Kranken und von ihnen selbst erstürmt.
Noch ein Wort über die nicht von der Epidemie Befallenen. Nur Sauberkeit konnte vor dem Bazillus schützen. Desinfektionsmittel wurden reichlich angeliefert und benützt. Chlorkalk, Lysol, Sagrotan und ähnliche wurden bekannte Wörter in Consdorf.
Für die Schutzimpfung, die nach neuer Methode in drei, je zehn Tage von einander getrennt liegenden Abstufungen erfolgte, stellte sich die Frage:Ob sie bei einer Epidemie, wo soviele eine unerkannte Inkubation durchmachen können, opportun sei. Tritt der Typhus nicht noch verderbender auf, wenn wir zu den im Körper vielleicht bereits wimmelnden Bazillen noch neue, wenn auch halbtote mit ihren Giftstoffen einspritzen ? Die Ärzte selber sind mit dieser Frage nicht im reinen.Einige befürworten die Impfung, andere verwerfen sie. Herr Dr. Speck trat resolut für die Impfung ein, lieb sich selber als behandelnder Arzt zuerst impfen und impfte dann noch rund 250 Einwohner. Drei davon machten Typhus, sogar schweren durch, aber kein Sterbefall trat ein.
Die Impfung garantiert keine hundertprozentige Immunisierung gegen den Bazillus, aber bei fast allen eine praktische Immunität gegen die gewöhnlichen Ansteckungsmöglichkeiten. Auch tritt die volle Immunität erst etwa 14 Tage nach der letzten Impfung ein, weil diese ihre ganze Wirkung erst erreicht, wenn alle Antikörper im Blute herangezüchtet sind .
Man war darauf gefaßt, daß der Typhus im Sommer 1946 neu auftrete. Glücklicherweise zeigte sich kein neuer Krankheitsfall. Und so war's gut.

J. P. Apel ( damaliger Pfarrer in Consdorf )

zurück zur Hauptgeschichtsseite